Der Beitrag in der Süddeutschen zu Predicte Policing erwähnt ausgehend von den Diskussion um Precobs vermeintlich „krassere“ technische Entwicklungen die irgendwie noch mehr wie Minority Report sind. Dabei wird unter anderem ein Programm aus Chicago vorgestellt, dass ca. 400 Personen auf einer automatisierten Heat List führt. Die Berichterstattung und Diskussion dazu fand in den USA schon im Februar statt. Das Programm läuft seit Mitte 2013.

Das Programm funktioniert, in kurz, so: Daten über Einzelpersonen werden in einem Profil aggregiert, dass für Einzelne etwas darüber aussagen soll, ob sie bald Opfer oder Täter einer schweren Straftat werden. Im Prinzip geht’s um Mordprävention. Tatsächlich ist diese Heat List im Vergleich zu Precobs der Übergang vom vorhersagen konkreter Straftaten (wie Einbrüchen) hin zum personenzentrierten Risikoprofiling.

Das Program

Viel raus finden darüber was genau das für ein (technisches) Programm ist oder wie es funktioniert kann man in den ursprünglichen Artikeln leider nicht. Es läuft im Crime Prevention and Information Center (CPIP) der Chicagoer Polizei und wird entwickelt unter der Leitung von  Miles Wernick, der Experte für maschinelles Lernen ist und vor allem im Bereich Bilderkennung und -verarbeitung publiziert. Nur auf crimelibrary.com habe ich eine ausführlichere Beschreibung gefunden:

„Critical to the algorithm is not just whether someone has been arrested, but with whom they were arrested, and what criminal violence those acquaintances have been involved with. […] The ITT algorithm is built around sociological research. Yale University’s John Papachristos studied the crime patterns of Lawndale and Garfield Park on Chicago’s West Side. He discovered that people who knew a homicide victim were nine times more likely to be involved in a homicide themselves. This inspired ITT and the Chicago PD to create a piece of software that weighs various factors (including arrests, warrants, parole status, weapons and drugs charges, acquaintances’ records, and having been a victim of a shooting or connected to a victim) to calculate how likely an individual is to be involved in a violent crime.“ Quelle: Kristal Hawkins, <crimelibrary>, 01.03.2014

Was die verarbeiteten Daten angeht, enhtält das schon mal eine Entwarnung. Einige der Nachrichtenartikel hatten zumindest suggeriert, dass auch Daten aus Online Social Networks in die Analyse mit einfließen würden. Auch wenn es sowas in New York scheinbar gibt, setzt Chicago vor allem auf solche Daten (fett markiert) die eh im Polizeiregister landen. Das neue an der Programm ist also vor allem die Auswertung und Aufbereitung der Daten.

Die Beschreibung, die die Polizei ins Netz gestellt hat führt, neben dem Analyseteil, noch weitere Komponenten aus. Außer der Heat List wird auch Liste mit Influentials geführt, also solche Personen die negative wie positive Einflüsse auf Personen auf der Heat List haben. Ob diese Liste auch aus den oben genannten Daten generiert wird oder dazu andere heran gezogen werden, erfährt man leider nicht.

Wichtigstes Element in der Prävention ist dann der  Brief den die Heat List Personen nach Hause gebracht bekommen.  Die Custom Notifications sind, zumindest ist das die interne Vorgabe, nicht nur verbunden mit Hinweisen auf mögliche Folgen der Lebensweise („Sie könnten das nächste Opfer sein, oder im Knast landen“) sondern auch mit einer Art „Aussteigerprogramm“.

Die Theorie

gangmurder_chicago1998

„The social structure of gang homicide in Chicago, 1998..“ nach Papachristos 2009

Zwei der Berichte über das Programm nennen die Forschung eines Soziologen als wissenschaftlichen Background. Andrew Papchristos (der im obigen Zitat erwähnt John Papachristos hat meiner Recherche nach dazu nicht publiziert)1 hat 2009 einen Artikel geschrieben in dem er die Morden zwischen Gangs in Chicago analysiert. Neu an seinem Ansatz war, das er eine Netzwerkanalyse macht, um zu schauen welche Gangs die meisten Morde verüben und an wem und wie. Das ist ganz interessant und die Folgerungen eher konkret, wie etwa: Mordserien entwickelten sich häufiger zwischen großen Gangs, meist „black-on-black“ und häufig ging es Gebietsstreitigkeiten, um nur ein paar Schlussfolgerungen zu nenne.

Für das Programm der Polizei wurde nun diese rückwärtsbetrachtende Analyse umgewandelt in eine vorausschauende. Das ist nicht nur bedenklich, weil es im Zweifel nur bestehende Verhältnisse zementiert und sich natürlich den Vorwurf des Racial Profilings einhandelt. Dazu kommt, dass, während der Artikel nur 50% der Morde in Chicago analysiert, nämlich die, die mit Gangs zusammen hängen, die Heat List sich nicht nur auf Gangs bezieht. Zudem analysiert Papachristos zwar das Netzwerk zwischen den Gangs, aber ohne zu negieren, dass andere Faktoren wie die Nachbarschaft oder „social-characteristics“ auch einen Einfluss haben.  Und nicht zuletzt geht es dem Autor eher darum zu zeigen, dass Morde zwischen Gangs keine Einzelfälle sind, die auf Konflikte zwischen zwei Personen zurück gehen, sondern Morde strukturelle und strukturierende Elemente in dem Gang-Netzwerk der Stadt sind.

Die Chicagoer Polizei zieht daraus aber nicht die Schlussfolgerung organisierte Kriminalität Ursache zu erkennen und die Morde strukturellen Effekt, sondern richtet sich wieder auf den_die Einzelne. Und weil es die Daten auf denen die Studie beruht für die Zukunft noch nicht gibt, wird auch mit der Datengenerierung kreativ umgegangen. Die Gangzugehörigkeit die in der Studie eine wesentlich Rolle spielt, wird ersetzt – so würde ich die Nachrichtenartikel jetzt interpretieren – durch ein viel schwächeres Datum, ein gewichtetes soziale Netz das über gemeinsamen Verhaftungen ermittelt wird.

Die Einzelfälle

Zwangsläufig führt so eine Prognosemethode natürlich zu false-positives, also fehlerhaften Zuordnungen einer Person zu der Heat List, was aber nicht heißt, dass das Programm willkürlich agiert. Die SZ Berichtet von Robert McDaniel:

In Chicago klopften Beamte an der Tür eines 22-Jährigen, um ihn zu informieren, dass er bald jemanden erschießen oder selbst erschossen werden könnte. […] Der Betroffene war wegen gewaltloser Delikte wie Cannabisbesitz aktenkundig, ein Freund von ihm war im Jahr zuvor erschossen worden. Quelle: SZ-Online 12.09.2014

Der Absatz suggeriert: Da ist ein junger Mann der wegen n bisschen Kiffen mal aktenkundig wurde und nur weil die Polizei irgendwie wusste, dass er einen anderen kennt, der erschossen wurde, wurde er verdächtig. Tatsächlich ist die Verbindung zwischen den beiden aber nicht das Ergebnis von NSA-ähnlicher Facebookanalyse, sondern das „Social Network“ auf das sich die Polizei bezieht ist ein internes, dass analysiert wer mit wem zusammen verhaftet wurde.

Tatsächlich ist McDaniel, nach diesem Bericht, nur einmal verurteilt worden, aber mehrfach wegen häuslicher Gewalt, Glückspiel und Drogenbesitz festgenommen worden. Zugegeben, alles nichts was ihn zum potentiellen Mörder macht, und er beschwert sich zurecht, dass er mit dem Hausbesuch vor den Nachbar_innen bloß gestellt wird (und vermutlich auch werden sollte). Nichtsdestotrotz hatte er keinen Besuch, weil er als vermeintlicher Täter in der Glaskugel ermittelt wurde. Das als Präventationsstrategie ihm dann ein Platz in Programmen angeboten wird, während er selbst der Meinung ist, sich nicht anders zu  verhalten als die Nachbarkids, man also vielleicht eher ein Förderprogramm für die ganze Community bräuchte kann man auch kritisieren.

Die weiteren Fälle die in dem Artikel angesprochen werden enthalten auch gleich die passende Kritik: Eine 17jährige die nur einmal festgenommen worden war und nach ihrem Schulabschluss ein College besuchen will, landete auf der Liste. Natürlich schafft es ein Programm, dass nur auf negativen Einträgen über Verhaftungen und Verurteilungen beruht nicht positive Sozialprognosen zu erstellen. Im Zweifel kann so ein öffentlicher Polizeibesuch da ja tatsächlich eher noch negative Auswirkungen haben.

Und den Tod eines 21 jährigen, der mehrere Festnahmen wegen rumlungern und haus- oder landfriedensbruch (übersetzt man so ‚trespassing‘?) in seiner Akte hatte, und im „Netz“ mit Menschen war, die auf der Heat List standen, wurde erschossen bevor er selbst auf der Liste landete – ein false-negative. Das ruft nach einer Ausweitung des Programms! Oder zeigt in der Gänze dessen Unfähigkeit.

Das Programm ist, so weit ich das recherchieren konnte, noch nicht evaluiert, ein Jahr „Testzeitraum“ abgeschlossen. Ich hoffe ich bekomme mit ob und warum das (nicht) weitergeführt wird.

Die Nachrichten

Zurück zu dem Süddeutsche Artikel und den sich wiederholenden Vergleichen mit Minority Report. So etwas wie die Heat List ist Minority Report sicherlich ähnlicher, als die Korrelation von Orten mit bestimmten Arten von Verbrechen, weil Personen identifiziert werden und nicht Straftatskategorien. Dennoch geht es bei Minority Report um die Vorhersage einer konkreten Straftat einer konkreten Person. Und davon ist die Heat List weit entfernt, geht es ihr doch eher um das präventive Einwirken auf bestimmte Personen. Eigentlich ähnlich der Praxis Fussballfans die Ausreise zu verweigern, die auf einer bestimmten Liste stehen. Das wird auch kritisiert, aber trotzdem vergleicht das keiner mit Predictive Policing.

Meine Sorge ist eher,  dass, wenn wir regelmäßig davon lesen was im „verrückten“ Amerika alles schon möglich ist und das dort eigentlich alle Daten, die es überhaupt gibt auf der Welt gibt einbeziehen, dann setzt auch hier ein Gewöhnungseffekt ein. Wenn dann demnächst wieder ein cholerischer BKA Präsident oder wild gewordener GdP Vorsitzender verschärfte Programme fordern haben wir das alles schon mal gehört.

  1. Papachristos, Andrew V. 2009. “Murder by Structure: Dominance Relations and the Social Structure of Gang Homicide.American Journal of Sociology 115(1):74–128. PDF Download []